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Das Verstecktsein Gottes gegenüber Menschen, die ihn wirklich suchen, ist eines der stärksten Argumente gegen die Existenz des christlichen Gottes.
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Ich erkläre das Divine Hiddenness Argument und diskutiere einige christliche Kritikpunkte.
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Zum Schluss wird die große und kleine Relevanz des Themas deutlich.

Vor einigen Monaten habe ich einen jungen Mann kennengelernt, ich nennen ihn hier einfach mal Kai. Kai war zeitgleich mit mir in einer psychosomatischen Klinik. Menschen, die mehrmals in solchen Kliniken landen, haben tendenziell biografisch betrachtet schon viel erlebt. In dieses Schema passte auch Kai mit seiner Lebensgeschichte gut hinein: Er war komplex traumatisiert, hatte bereits einen Suizidversuch überlebt und schon für weite Teile seines Lebens mit diversen psychischen Erkrankungen kämpfen müssen.
In einem unserer Gespräche kamen wir auf den Glauben zu sprechen. Er sagte Folgendes:
„Ich beneide Menschen, die glauben können. Ich kann das nicht.“
Er beschrieb mir, wie gern er an einen Gott glauben würde. Er hatte sich schon mit verschiedenen Religionen und spirituellen Wegen auseinandergesetzt, war offen, aber es hatte einfach nichts davon funktioniert.
Kai ist die Personifikation des Problems, das unter dem Begriff „Divine Hiddenness“ bekannt ist:
Divine Hiddenness
Die bekannteste Variante dieses Arguments geht auf J.J. Schellenberg zurück und sieht in etwa so aus [Das hier ist meine Übersetzung – sie trifft den originalen Wortlaut nicht ganz. Für die englische Fassung des Arguments und eine intensivere philosophische Diskussion des Problems kannst du diesen Artikel lesen.]
- Wenn kein vollkommen liebender Gott existiert, existiert kein Gott.
- Wenn ein vollkommen liebender Gott existiert, ist dieser Gott immer offen für eine persönliche Beziehung zu jedem Menschen.
- Wenn Gott immer offen für eine persönliche Beziehung zu jedem Menschen ist, kann es keinen Menschen geben, dem widerstandslos die Existenz dieses Gottes nicht bewusst ist.
- Wenn ein vollkommen liebender Gott existiert, gibt es keinen Menschen, dem widerstandslos die Existenz Gottes nicht bewusst ist. (aus 2+3)
- Es gibt Menschen, denen widerstandslos die Existenz Gottes nicht bewusst ist.
- Kein vollkommen liebender Gott existiert. (aus 4+5)
- Kein Gott existiert. (aus 1+6)
Anfragen & Antworten
Natürlich ist dieses Argument voraussetzungsreich:
In Bezug auf Gott wird vorausgesetzt, dass er vollkommen liebend und immer beziehungsinteressiert ist. Der erste Vorannahme ist zumindest im Hinblick auf den christlichen Gott zustimmen. Man könnte das Argument so umformulieren, dass es nur eine Aussage gegenüber dem christlichen Gottesbild trifft. So wäre die erste Prämisse: Wenn kein vollkommen liebender Gott existiert, existiert Jahwe nicht. Die letzte Schlussfolgerung wäre dementsprechend: Jahwe existiert nicht.
Wenn man jedoch einfach nur für eine deistische, polytheistische oder anders geartete Variante der Transzendenz plädiert, fällt das Argument an dieser Stelle bereits in sich zusammen. Denn es ist durchaus möglich, dass es einen Gott/Götter gibt, der/die nicht vollkommen gütig ist/sind. Welche Ziele Wesen verfolgen, die außerhalb von Zeit und Raum existieren, kann ich nicht wissen. Aber wenn man den Gott, wie er sich in der Bibel vorstellt, annimmt, ist diese Prämisse gültig.
Das persönliche Beziehungsinteresse ist schon etwas schwieriger. Grundlegend könnte das Evangelium als ultimatives Beziehungsangebot verstanden werden. Aber damit ist noch nicht gesagt, wie genau diese Beziehung auszusehen hat. Aber der Punkt, dass dieses Beziehungsangebot jedem Menschen persönlich gilt, ist ein wichtiger Bestandteil des (postmodernen) Christentums.
Auf Menschenseite wird vorausgesetzt, dass es tatsächlich widerstandslosen Unglauben („nonresistant nonbelief“) gibt. An diesem Punkt setzt einer der christlichen Kritikpunkte an dem Problem an:
1. Es gibt keinen widerstandslosen Unglauben
Das stärkste Gegenargument ist das Anzweifeln dessen, dass Menschen wirklich ohne inneren Widerstand einfach nicht von Gottes Existenz überzeugt sind.
Jeder, der nicht überzeugt ist, habe entweder…
a) noch nicht tief genug gegraben, um zu der begründeten Position zu kommen, es gäbe keinen Gott,
oder ist…
b) (unwissend) willentlich ungläubig.
Diese Aussagen drücken allerdings mehr über die Vorstellungskraft von Christen aus als über das potenzielle Innenleben eines Atheisten. Wenn man selbst schon länger glaubt, ist der Glaube das Normalste überhaupt: Dann kann es durchaus schwer werden, sich vorzustellen, dass andere Menschen das einfach nicht haben. Dennoch ist der Vorwurf, man wolle wohl einfach nicht Glauben, unangebracht – das wird vielleicht durch ein Gegenbeispiel deutlich: Das umgekehrte Pendant wäre, wenn ich zu einem Christen sagen würde:
„Du glaubst nur, weil du dir wünscht, es wäre wahr.“
Es wäre in dem Fall offensichtlich übergriffig, die Gründe des Glaubens meines Gegenübers einfach aus der Luft zu greifen: Ich kann von Außen nichts über die Gründe für den Glauben anderer aussagen. Über die Vorbehalte anderer Menschen gegenüber dem Glauben lässt sich von außen ebenso wenig aussagen.
Deshalb kann genaugenommen nur jede Person für sich selbst sagen, ob sie dem Glauben an Gott gegenüber voreingenommen ist. Gewissermaßen ist das eigene, bewusste Innenleben das, worüber man auf dieser Welt die sichersten Aussagen treffen kann. Ich kann nur von mir sagen, dass ich keinen inneren Widerstand gegen einen Gottesglauben hege.
Natürlich kann jemand mit bestimmten konfessionellen Vorannahmen behaupten, dass mein Verstand ohne Gott völlig verdunkelt ist. Oder jemand könnte behaupten, ich bin mir meines inneren Widerstands nicht bewusst. Aber löst das wirklich das Problem? Nein. Denn in beiden Fällen ändert das nichts an meiner Wahrnehmung, was wiederum verhindert, dass ich irgendetwas dagegen tun könnte. In beiden Fällen kann ich sowieso nichts daran ändern.
Eine andere Frage, die in diesem Kontext gestellt werden kann, ist, welchen Sinn es ergeben würde, willentlich nicht an die Existenz eines Gottes zu glauben, also Widerstand dagegen aufrechtzuerhalten. Was hätten Menschen wie ich davon, uns selbst bezüglich der Existenz Gottes zu belügen? Das wäre ziemlich dumm. [Häufig wird den Gottlosen vorgeworfen, dass sie einfach nur sündigen wollen würden. In dem Fall wäre es wahrscheinlich sinnvoller, ChristIn zu bleiben, dann gäbe es immerhin Vergebung und keine Möglichkeit der Ewigkeit in der Hölle, aber das nur am Rande…]
An dieser Stelle wird häufig eingehakt: Genau darum ginge es doch! Wenn jemand gar nicht anders kann, als an die Existenz Gottes zu glauben, sei damit doch der freie Wille dieser Person aufgehoben! Gott möchte schließlich Beziehungen nicht erzwingen. Damit wären wir beim zweiten großen Einwand:
2. Beziehung setzt kein Überzeugtsein voraus
Die zweite Anfrage ist, ob es wirklich klare Überzeugung braucht, um eine Beziehung zu Gott zu haben. Immerhin befinde sich christlicher Glaube immer in einem Spannungsfeld zwischen Verheißung und Realität. Da komme Glaube ins Spiel, der genau in und trotz dieser Spannung besteht. Dieser Glaubensweg gewährleiste, dass das Vertrauen auf Gott nicht erzwungen ist – Liebe setze Freiheit der Entscheidung voraus.
So weit, so gut. Aber dass das Wissen um einen Gott noch keine Beziehung erzwingt, ist sogar biblisch belegt: Der Pharao und Judas Iskariot sind nur zwei prominente Beispiele. (Natürlich könnte man hier auch den Teufel anbringen, aber da er kein Mensch ist, hinkt der Vergleich vielleicht etwas)
Außerdem ist das Anliegen des Arguments nicht, dass alles an Gott glasklar erkennbar sein müsste. Der Mehrwert von Glauben als dem Aushalten von Spannungen und dem Vertrauen auf Gott könnte auch dann noch bestehen, wenn man erst einmal überzeugt von der Existenz seines Beziehungsgegenübers ist. Schließlich sind ja das Leben, die Fragen und Hoffnungen auch für Christen noch da, die einen festen Glauben an die Existenz eines Gottes haben. Das müsste nicht verloren gehen.
Hier gehts um das absolute Minimum für diese Beziehung: Das Wissen um die Existenz Gottes. Klar, der menschliche Vergleich hinkt, aber um mit einem Menschen Beziehung leben zu können, muss ich erst einmal davon überzeugt sein, dass diese Person auch wirklich existiert. Dann kann ich überhaupt erst darüber nachdenken, ob ich mein Leben mit dieser Person teilen möchte. Ohne mein Wissen um die Existenz dieser Person stellt sich die Frage nach der Beziehung nicht. Übrigens auch nicht, wenn alle Menschen in meinem Freundeskreis regelmäßig von dieser Person sprechen würden. Bis es zu einem Treffen kommt, bei dem diese Person auch dabei ist, habe ich nicht einmal eine potenzielle Beziehung zu ihr.
Von christlicher Seite kann als grundlegendes Beziehungsäquivalent, das nicht unbedingt Glauben voraussetzt, die Bibel vorgebracht werden: Man könnte von einer Art Brieffreundschaft ausgehen, in der Gott die Bibel zur Verfügung stellt und Menschen beten. So ergibt sich eine Art der Beziehung. Abgesehen davon, dass das eher zwei Monologe anstelle von einem Dialog wären, setzt diese Beziehung ein Vertrauen auf die Zuverlässigkeit der Bibel voraus. Dieses Vertrauen fußt wiederum auf der Überzeugung, dass es einen Gott gibt, der sich so offenbart hat.
Das macht deutlich: Ich muss von Gottes Existenz überzeugt sein, um überhaupt potenziell eine Beziehung zu ihm zu haben. An dieser Stelle hakt es also. Hier kommt der einzig wichtige Grund für den Atheismus: Ich bin nicht überzeugt, dass es Gott gibt. Damit erübrigt sich der Rest: Unabhängig davon, wie gern ich eine Beziehung zu Gott hätte, ich muss erst glauben können, dass es ihn gibt:
Und damit kommen wir zum dritten Gegenargument.
3. Gott hat seine Gründe
Gott habe gute Gründe für sein Versteckspiel. Es ginge bei dem Unglauben einer Person um ein höheres Gut, das jetzt noch nicht erkennbar sei – entweder in ihrem eigenen Leben oder den Leben anderer Menschen. Gott ist Gott – und damit unverfügbar.
Das ist das Argument, dem ich am wenigsten entgegenhalten kann. Natürlich kann das sein. Und wenn man voraussetzt, dass es diesen Gott gibt und dass er gut ist, kann dieser Verweis aus christlicher Perspektive bestimmt tröstlich sein. In allem Nachdenken über unlösbare Spannungen, scheinbare Widersprüche und stark entgegengesetzte Emotionen ist der letzte Schritt:
„Gott wird schon wissen, was er tut oder lässt. Ich muss das nicht verstehen, ich muss nur darauf vertrauen, dass er es gut meint.“
Und von da aus geht dann das Leben weiter und man denkt möglichst wenig darüber nach.
Mit „weiß ich es nicht“ lebt es sich aber nur gut, wenn es einen nicht persönlich betrifft. Sobald eine der Fragen, auf die mit „den mysteriösen Wegen des Herrn“ geantwortet wird, einen Menschen existenziell betrifft, wird die kognitive Dissonanz zum täglichen Begleiter. Vertrauender Glaube bedeutet, diese kognitive Dissonanz aushalten zu können. Das ist mir nicht vergönnt.
Mir ist mit der Ausflucht in das Schulterzucken nicht geholfen – stattdessen sorgt diese Antwort bei mir dafür, dass ich das ganze System nicht mehr plausibel finde: Dass Gott gute Gründe haben könnte, ist ein Totschlagargument. Aus skeptischer Perspektive wirkt die Unverstehbarkeit Gottes wie eine Immunisierungsstrategie, durch die sich jegliche Diskussion über Gott erübrigt. Wenn „Können wir eh nicht verstehen“ eine legitime Antwort auf die Frage nach Gott wird, dann können wir uns die ganze Diskussion auch sparen. Die Handlungen Gottes mit dessen Unverstehbarkeit zu rechtfertigen bedeutet auch, dass alles, was wir in unseren menschlichen Begriffen über Gott sagen können, an Bedeutung verliert. Damit geht alle Überprüfbarkeit des Systems verloren. Es gibt kein Argument mehr, bei dem dieser Erklärungsansatz nicht ziehen würde. Wie versteckt Gott ist, wäre dann völlig egal. Gott entzöge sich aller Falsifizierbarkeit.
Und jetzt!?
Auch, wenn all diese Gegenargumente vielleicht einem Christen in der Frage weiterhelfen, warum manche Menschen nicht glauben (können), lande ich als widerstandslos-ungläubige Person da, wo ich angefangen habe:
- Ob es wirklich nicht-widerstehenden Unglauben gibt oder ich mir nur einbilde, dass ich keinen Widerstand leiste, macht im Ergebnis keinen Unterschied.
- Um entscheiden zu können, ob ich eine Beziehung mit jemandem führen will, muss ich erst einmal von der Existenz dieser Person überzeugt sein.
- Wenn dieses Gegenüber denkt, es diene irgendeinem höheren Ziel, sich genau vor mir zu verstecken, bringt mich das in meinem Unglauben nicht weiter.
Ich verstehe nicht, was ein Gott davon haben könnte, so versteckt zu existieren, wie er es vermeintlich tut. Welchen Mehrwert könnte es haben, sich vor den Menschen zu verstecken, die potenziell eine Beziehung mit ihm eingehen wollen würden? Denn was gilt Menschen wie mir jetzt? Die praktischen Hinweise von Apologeten sind meist: Setze dich dem einfach weiter aus. Bleibe widerstandslos. Cool.
Das kleine Bild
Oft wird in christlicher Theologie von dem großen Bild gesprochen: Von einem Gott, der Heilsgeschichte schreibt. Von einem Herrscher, der Völker regiert und alles souverän zusammenführt. Aber Gott stellt sich in Jesus auch als der vor, der dem Einzelnen nachgeht. Jesus sucht das verlorene Schaft. Gott ist nicht nur Herr des Universums, sondern er hat den einzelnen Menschen im Blick – theoretisch zumindest.
Denn was genau das mit der Realität haben soll, bleibt schwer zu erkennen. Divine Hiddenness besteht auf beiden Ebenen. Ich könnte jetzt lang und breit von den Kulturen, Völkern und Zeitaltern berichten, in denen Gott sich höchstens einzelnen Menschen offenbart hat und der breiten Masse völlig versteckt war (wenn man nicht die natürliche Theologie plötzlich total aussagekräftig findet…). Aber das verdient einen eigenen Eintrag. Divine Hiddenness braucht nicht die Millionen der Menschen, die nie von Jesus gehört haben: Es reicht Kai. Es reicht ein Mensch, der ehrlich nach Gott sucht, ihn aber nicht findet. Es reicht die Existenz eines Lebens, das trotz der Offenheit für einen Glauben an Gott im Unglauben endet.
Wenn du gern mehr darüber erfahren willst, wie der Diskurs zu diesem Thema zwischen Gläubigen und Ungläubigen aussieht, kann ich die diese Podcast-Episode von Unbelievable? empfehlen.
Was denkst du zu dem Argument? Überzeugt es dich? Wenn nein, warum nicht? Wo steigst du aus? Schreib es gern in die Kommentare!
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