The Deconstructing Bee

Dekonstruktion – Wachsen zwischen Lebenswelten

Lesezeit: 3 Minuten

In Short

  • Dekonstruktion ist das ergebnisoffene Hinterfragen von Glaubensinhalten.
  • Der Prozess ist individuell und findet mitten im Leben statt.
  • Er ist befreiend und beängstigend, aber muss nicht allein bewältigt werden.

Menschen verknüpfen ihr Leben lang Begriffe mit Bedeutungen und Kontexten, aber vor allem mit Emotionen. Was man womit assoziiert, ist bei jedem unterschiedlich. Aber in bestimmten Kreisen sind bestimmte Begriffe kollektiv belegt – in den evangelikalen Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin, ist „Dekonstruktion“ negativ, sogar gefährlich konnotiert. Und „Atheismus“ natürlich noch mehr.

 

Ich habe in den letzten Monaten dekonstruiert. Und um meine aktuellen Standpunkte offenzulegen: Ich habe mich in Richtung agnostische Atheistin entwickelt (die aber weiterhin ergebnisoffen bleiben will). Das ist angesichts meiner Prägung äußerst unpraktisch. Denn kognitiv habe ich mich schneller verändert als emotional. Ich assoziiere mittlerweile mit beiden Begriffen nicht mehr nur Negatives, aber ich bin immer noch dabei, umzulernen. Ich bin noch mitten im Dekonstruktionsprozess.

Was ist Dekonstruktion?

Der Begriff setzt sich aus „Destruktion“ und „Konstruktion“ zusammen. Er geht auf den Philosophen Jacques Derrida zurück, der literarische Texte mittels Dekonstruktion entschlüsseln wollte. Seither wurde der Begriff ausgeweitet und das Prinzip in der Analyse ganz unterschiedlicher Themenbereiche angewandt. Ein solcher Bereich ist der Glaube oder die geistliche Prägung.

Um das Konzept besser zu verstehen, kannst du dir deinen Glauben wie ein Haus aus Legosteinen vorstellen: Verschiedene Glaubenswahrheiten, Erlebnisse, Prägungen, Bibelgeschichten und deren Interpretationen usw. bilden ein System, in dem dein religiöses Leben stattfindet. Wenn man sich den Glauben als Lego-Haus vorstellt, dann könnte der Prozess der Dekonstruktion das Abbauen des Hauses sein. Die verschiedenen Bestandteile werden auseinandergenommen, genau angeschaut, hinterfragt, aussortiert und dann wird das Haus neu zusammengebaut.

Hätte man mir Dekonstruktion früher so erklärt, hätte ich wahrscheinlich nichts dagegen einzuwenden gehabt. Na ja, zumindest weniger, denn ich hätte den Teil des „Aussortierens“ zweifelsohne biblisch problematisiert. Aber seinen Glauben zu reflektieren fand ich schon immer wichtig.

Natürlich hat die ganze Sache einen Knoten: Dekonstruktion ist schon von der Definition her ergebnisoffen. Um im Bild zu bleiben: Bedingung dafür, das Lego-Haus auseinanderzubauen, ist aus christlicher Perspektive, dass man vorhat, es danach auch wieder aufzubauen. Aber um es wirklich frei auseinandernehmen zu können, muss jeder Stein bewegt und aussortiert werden dürfen. Auch das Fundament. Sonst könnte man sich den Prozess auch sparen.

Und damit bekommt Dekonstruktion die Konnotation „gefährlich“. Denn aus der Ergebnisoffenheit ist die notwendige Schlussfolgerung, dass man neben der Option der Rekonstruktion auch die Möglichkeit hat, das Glaubenshaus überhaupt nicht wiederaufzubauen. Das wäre dann eine Dekonversion.

Aber auch dieses Entweder-oder wird der Komplexität nicht gerecht. Jeder Prozess ist anders, und keiner ist so fein-säuberlich-theoretisch wie bisher beschrieben. Es ist schließlich nicht so, als ob man eines Tages aufwacht und den Gedanken hat: „Hmm, wie wäre es, wenn ich meinen Glauben mal unter die Lupe nehme, meine Vorannahmen checke, Argumentstrukturen nach logischen Fehlern durchforste und überlege, wie ich diese beheben kann.“ Nein. Es passiert etwas ganz anderes: das Leben. Dein Glaubenshaus steht nicht im luftleeren Raum, sondern in der vielfältig herausfordernden Realität.

Dekonstruktion als Sturm

Um zum Lego-Bild zurückzukommen: Unterschiedlichste Windströme und Luftschichten treffen so ungünstig aufeinander, dass eine Windhose entsteht und über dein schönes Lego-Haus herfällt. Alles wird durcheinandergebracht und fliegt durch die Luft, sodass du nicht mehr weißt, wo unten und oben ist. Und dann wird es plötzlich ganz ruhig. Jetzt sitzt du verwundet und verwirrt in deinem Haufen Glaubens-Lego-Steine.

 

Wie es dann weitergeht, ist sehr individuell – sind doch irgendwie auch alle Glaubenshäuser und Baustile einmalig. Dekonstruktion ist für jeden anders. Für mich ist es das Gefühl der Angst und des Kontrollverlustes, mitten im Wirbelsturm die Teile um mich herumfliegen zu sehen und allen Halt verloren zu haben. Und dann ist es das Gefühl der Trauer und Ratlosigkeit, vor der Lego-Hausruine zu stehen und nicht so ganz zu wissen, wie es weitergeht.

 

Aber es ist viel mehr als das: An manchen Tagen genieße ich die Freiheit und bin gern draußen! Es gibt so viel zu erforschen und neu zu entdecken! Es ist unglaublich bereichernd, die Welt durch andere Augen zu betrachten und so manches theologisch begründetes Vorurteil abzulegen. 

 

Doch an anderen Tagen vermisse ich den Schutz des Hauses. Mein Sturm ist jetzt schon einige Monate her, aber manchmal sehe ich die Ruinen meines Glaubens und realisiere wieder von Neuem, dass mein Wirbelsturm so stark war, dass mein altes Glaubenshaus unwiderruflich zerstört ist. Ich stehe immer noch regelmäßig vor der Ruine und stelle wieder fest, dass die Steine überhaupt nicht mehr aufeinander passen. Es folgt die schmerzhafte Erkenntnis, dass ich mühsam bauen werden muss, falls ich wieder rekonstruieren möchte. Aber wenn ich es tue, wird mein neues Glaubenshaus sehr anders aussehen.

Let's do this together!

Um zum Anfang zurückzukommen: Mein Leben findet gerade zwischen Lebenswelten statt. Ich fühle mich oft zerrissen zwischen der, die ich mal war, und der, die ich jetzt bin.

Zwischen glauben wollen und zweifeln müssen.

Zwischen Freiheitsliebe und Sicherheitsbedürfnis.

Für mich greift der Dekonstruktionsprozess tief in Identität, Werte und Lebensausrichtung hinein. Mit meinem Glaubensverlust habe ich das verloren, was mir im Leben am wichtigsten war. Dementsprechend habe ich mich mit vielen Themen beschäftigt, viele Legosteine von verschiedenen Seiten angeschaut und bin an einem Punkt, an dem ich gern einiges davon teilen möchte.

Im letzten Jahr habe ich mir häufig Menschen gewünscht, die den Prozess verstehen – Menschen, die die dazugehörigen Emotionen erleben und mitteilen. Hier will ich so ein Mensch für dich sein. Ich werde hilfreiche Medien zusammenstellen und zur Verfügung stellen, Themen dekonstruieren, aber auch eigene Gedichte, Geschichten und Gedanken teilen.

Dekonstruktion kann sich sehr einsam anfühlen – aber du bist nicht allein. Es gibt da draußen Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen! Und, ganz egal, wo du landest: Es gibt Hoffnung! Es bleibt nicht für immer so ein Durcheinander an Emotionen und Gedanken. Zwar kann dir niemand deinen Sturm nehmen, aber du musst da nicht allein durch! Ich möchte hier einen Safe Space schaffen, in dem du unabhängig von deinem Glauben oder Nicht-Glauben willkommen bist.

 

Ich habe eine PDF mit Journaling-Fragen für dich vorbereitet, falls du deinen Bezug zu dem Thema reflektieren möchtest. Ansonsten freue ich mich, wenn du kommentierst oder Kontakt zu mir aufnimmst!

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