The Deconstructing Bee

Allmächtige Kommunikation?

Lesezeit: 6 Minuten

In Short

  • Gott soll sich durch die Bibel offenbart haben - aber das wirft angesichts seiner Allmacht und der Eigenschaft, allwissend zu sein, einige Fragen auf.
  • Die Kommunikation von einem allwissenden Gott mit den Menschen sollte Missverständnisse unmöglich machen - oder sind sie Teil des Plans?
  • Was sagt die Fehlbarkeit der Bibel über Gott aus? Das und weitere Möglichkeiten zur Entschärfung der kognitiven Dissonanz zum Schluss.

Ich finde die Entwicklung von Menschen total spannend: Wir werden als hilflose kleine Wesen geboren und lernen, von unserem ersten Atemzug an, immer mehr dazu. Besonders in den ersten Jahren kann man staunend dabei zusehen, wie Kinder wachsen, selbständiger werden und lernen, auf unterschiedlichste Weisen zu kommunizieren.

 

Im Umgang mit einem Kleinkind ist ein ständiger Anpassungsprozess von den Eltern an den Stand der Entwicklung des Kindes im Gange: Sie kommunizieren so, dass das Kind versteht, was sie meinen. Natürlich sprechen sie von Anfang an mit dem Kind, und irgendwann versteht es den Großteil dessen, was sie sagen. Aber anfangs verstehen die Kinder nicht, was die Eltern ihnen mitteilen wollen: Wenn eine Mutter ihr Baby dazu auffordert, den Gegenstand, den es mit seinen kleinen Fingern gepackt hat, wieder hinzulegen, wird eine bloße Aufforderung nicht reichen. Die Mutter weiß das, und wird (hoffentlich) dementsprechend ihre Kommunikation anpassen, indem sie beispielsweise zusätzlich eine Geste macht.

 

Wenn die Mutter jedoch einfach stehenbleibt und sauer wird, dass das Kind nicht auf die Worte gehört hat, wäre das unangebracht. Warum? Weil der Erwachsene verantwortlich dafür ist, dass die Botschaft ankommt. Das Kind ist völlig abhängig davon, dass seine Bezugspersonen so mit ihm kommunizieren, dass es sie versteht.

 

An diesem Punkt weißt du wahrscheinlich schon, worauf ich mit dieser Analogie hinauswill. Wenn wir von einem Elternteil erwarten, dass es so mit seinem Kind kommuniziert, dass die Botschaft ankommt, wie viel mehr sollten wir das von einem Gott erwarten!? Tatsächlich ist die Verantwortung eines allwissenden Gottes noch deutlich größer als die eines Elternteils: Immerhin weiß Gott, wie die Köpfe der Menschen funktionieren: Er hat sich jede Gehirnwindung, jedes Bedürfnis und jeden möglichen Weg der Kommunikation erdacht. Es sollte kein Problem für ihn sein, sich so auszudrücken, dass er verstanden wird, oder?

 

Fehlanzeige. Selbst, wenn wir mal kurz die Vielzahl anderer Religionen außer Acht lassen und uns nur die Christenheit anschauen, wird schnell deutlich, dass Gott sich nicht klar genug ausgedrückt hat.

Das Problemfeld der Sprache

Die fundamentalste Schwierigkeit findet sich darin, dass Gott sich in Sprachen offenbart hat, die im Laufe der Zeit im Wandel sind. Insofern sind Hebräisch und Altgriechisch tote Sprachen, wenn auch Vorgänger von Sprachen, die heute noch gesprochen werden. Das ist nicht nur problematisch, weil uns der Zugang zu den Sprachwelten der Zeit nur beschränkt möglich ist und uns dadurch so manche Nuance verborgen bleibt.

 

Die schwerwiegendere Konsequenz ist die daraus entstehende Notwendigkeit der Übersetzung. Gott lässt Menschen seine Worte übersetzen und damit unweigerlich auch interpretieren. Mal schlechter, mal besser. Das schafft nicht nur einen Abstand von der intendierten Textaussage, sondern auch noch mehr Abstand zwischen Gott und dem modernen Bibelleser: Wenn wir die Bibel lesen, lesen wir nicht die direkten Worte Gottes. Wir lesen die interpretierende Übersetzung eines zusammengepuzzelten Urtexts. Ach so, und natürlich (je nach der Auffassung der Inspiration) war es schon in dem ersten Urtext „Gotteswort in Menschenwort“.

 

Wenn wir Glück haben, ist es also eine richtigere Übersetzung von einem wahrscheinlicheren Urtext, der sich auf eine tendenziell verlässlichere Quelle der Kommunikation von Gott und Mensch rückbezieht – Aber das können wir weder wissen noch beurteilen.

 

Dass wir bereits in dem Moment, in dem wir die Texte lesen, so weit von der eigentlichen Offenbarungswahrheit entfernt sein könnten, ist aber nur der Anfang der Kommunikationstragödie.

Die (zu große) Vielfalt in der Theologie

Aus der Bibel werden theologische Lehraussagen abgeleitet. Aber es kommt häufig zu Unstimmigkeiten, und einige theologisch wichtige Aussagen sind biblisch eher nebensächlich: Das Konzept der Trinität wird nirgends explizit beschrieben, ob die Taufe heilsrelevant ist, ist umstritten, ob Frauen in der Gemeinde leiten dürfen oder nicht, wird heiß diskutiert, um nur ein paar Fragen anzureißen.

 

Nun könnte man anbringen, dass die meisten offenen Diskussionen nicht so wichtig sind. Das Problem ist, dass man sich nicht wirklich einigen kann, was theologisch heilsnotwendig, wichtig und nebensächlich ist. Dieser Tatsache ist die Vielzahl christlicher Gruppierungen zu verdanken. Jedes Mal, wenn sich eine neue Denomination abspaltet, passiert das, weil eine Gruppe eine Meinungsverschiedenheit für theologisch wichtiger hält als die Einheit. Das Thema war für sie mindestens wichtig, wenn nicht sogar heilsrelevant. Diese Trennungen, die sich in ihrer Grunddimensionen fast immer auf theologische Überzeugungen zurückführen lassen, sind geschichtlich bereits sehr, sehr häufig passiert: Es gibt heute mehr christliche Denominationen (45.000) als Verse in der Bibel (31.171)

 

Wenn Jesus die Wahrheit in Person ist, wie kann das sein? Das sieht nicht nach sonderlich klarer Kommunikation aus.

"Missverständnisse" haben Konsequenzen

Es bleibt aber nicht bei Glaubenssätzen, die nicht viel mit dem Leben zu tun haben: Aus dem dogmatischen Horizont folgt häufig der moralische.

Die Bibel wurde in ihren moralischen Ansprüchen oft „falsch“ verstanden, oder zumindest einseitig gelesen:

 

  1. Verse zur Sklaverei wurden zur Rechtfertigung der Sklaverei in der Neuzeit verwendet.
  2. Homosexualität wurde früher „Sodomie“ genannt und schwule Menschen wurden umgebracht.
  3. „Die Frau schweige in der Gemeinde“ hat die Frauenrolle in der Gemeinde und „Der Mann ist das Haupt“ die Frauenrolle in der Familie maßgeblich geprägt.
  4. Perikopen, in denen Jesus sagt: „dein Glaube hat dich geheilt“, werden heute noch als Erklärung für das Nichteintreten von Heilungen von Krankheiten vorgebracht: Die Person hat einfach nicht genug geglaubt.

Für all diese Verse und Geschichten lassen sich theologisch leicht Korrekturen vorbringen:

 

  1. Sklaverei, wie sie in der Sklavenbibel beschrieben wird, ist einseitig, da es im Neuen Testament (NT) durchaus auch ein Gegengewicht gibt.
  2. Die Sünde Sodoms wird heute in der Diskussion über die Haltung zur Homosexualität nur noch selten vorgebracht, weil es an der Stelle vorerst um Vergewaltigung geht.
  3. Es gibt durchaus Frauen, die innerbiblisch in der Gemeinde aktiv waren. Paulus schreibt nicht nur von der Unterordnung der Frau unter den Mann, sondern auch von der gegenseitigen Unterordnung.
  4. Später im NT wird Heilung selbstverständlich neben die Berichte von gläubigen Menschen gestellt, die nicht geheilt werden

Diese Erklärungen ändern aber nichts daran, wie die Verse in der Vergangenheit und Gegenwart gegen Menschen verwendet wurden und werden.

 

Ein allwissender Gott, der die Worte der Bibel inspiriert hat, wusste von den Konsequenzen, als er sie aufschreiben ließ. Er wusste, wie sie falsch verstanden werden würden:

  1. Er wusste um jeden Sklaven, der mithilfe der Bibel Missbrauch erleben würde.
  2. Er wusste um alle Menschen, die aufgrund der „Sodomie“ ermordet werden würden.
  3. Er sah jede Frau, die unterdrückt werden würde und deren Potenzial nicht entfaltet werden würde, als er den Brief an Timotheus und den an die Epheser inspirierte.
  4. Er kannte jeden Menschen, der zusätzlich zu dem Leid seiner Krankheit noch die Last tragen würde, „nicht genug geglaubt“ zu haben.

An vielen Stellen hätten ein kleiner Nebensatz mehr, drei Worte weniger oder eine winzige Veränderung der Grammatik Leben verändern können.

"Nö, das hast du schon richtig verstanden!"

Aber natürlich ist das noch nicht ganz alles. Denn selbst, wenn man die Bibel „richtig“ versteht, sind die moralischen Anweisungen mindestens fragwürdig. Die Moralvorstellung der Bibel wird häufig als seiner Zeit voraus oder als deutlich besser als die der Umwelt dargestellt. Das ist zwar vielleicht nicht die ganze Wahrheit, aber selbst, wenn die Juden irgendwie ein gerechteres Wertesystem gehabt haben würden als die Moabiter oder Kanaaniter, seitdem ist viel passiert. Aus heutiger Perspektive sehen wir, dass es vielleicht eher unangebracht ist, Menschen zu besitzen. Dass Frauen gleichberechtigt sein sollten. Dass man seine Kinder nicht mit Gewalt erziehen sollte. Dass die Todesstrafe keine so gute Idee ist.

 

Egal, wie progressiv die Bibel vielleicht gewesen sein mag, ihre Gesetze sind nicht gerecht. Ihre Gebote sind nicht einzigartig und vollkommen.

 

Theologisch kann argumentiert werden, dass die Bibel eine Richtung angibt: So könnten die in der Bibel bereits ersichtlichen Entwicklungen auch in der Zeit bis heute prozesshaft voranschreiten.

 

Das klingt vielleicht ganz nett, aber für die Menschen, die unterdrückt, besessen oder umgebracht wurden, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort lebten, war es eher weniger nett. Ganz davon abgesehen, dass die Menschen, die im Sinne der Prozesshaftigkeit argumentieren, auch irgendwo die Grenzen dieses Prozesses setzen, aus meiner Perspektive recht beliebig.

 

Nehmen wir die Sache des Kinder-Schlagens. Man kann noch so sehr betonen, dass es humanere Rahmenbedingungen des Schlagens im Volk Israel als in anderen Völkern drumherum gab: Es gibt sowohl im Alten als auch im Neuen Testament die Anweisung, Kinder mit der Rute zu erziehen. Heute wissen wir aber, dass Kinder dadurch traumatisiert werden. Jede Gewalt ist zu viel Gewalt. Klar kann man die Richtung sehen, die die Gleichstellung aller durch das Evangelium vorgibt, aber das ist nicht gerade die deutlichste, verständlichste Lesart der biblischen Belege.

 

Der allwissende Gott hat sich in einem Buch offenbart, das moralisch nicht nur missbraucht, sondern auch „richtig“ und dennoch schädlich gebraucht wird. 

 

Aus menschlicher Sicht ist Kommunikation „Trial-and-Error“. Zum Teil in zwischenmenschlichen Beziehungen, zum Teil auch über Generationen hinweg. Das ist der große Unterschied zu der Vorstellung eines allwissenden Gottes, der außerhalb der Zeit existiert.

 

Dieser Gott lernt nicht. Er weiß, wie er verstanden werden wird. Und nicht in dem Sinne, dass er sich irgendwelche möglichen Konsequenzen ausmalen müsste. Nein, er weiß um jedes potenzielle Szenario. Er nimmt es in Kauf, missverstanden zu werden. Er lässt ungenaue Formulierungen, theologische Streitigkeiten und moralisch schädliche Anweisungen nicht einfach nur zu: Nein, er inspiriert sie sogar!

Wie lässt sich die Spannung auflösen?

Ein Gott sollte nicht missverstanden werden können. Natürlich sage ich das als jemand, der nicht allwissend ist: Wer bin ich kleiner Mensch schon, mir anzumaßen, zu wissen, dass sich ein Gott nicht so offenbart hätte? Natürlich weiß ich das nicht.

 

Aber erneut: Die Frage ist: Wie plausibel ist es, dass ein Gott sich so offenbart hätte, wenn er wirklich allwissend, allmächtig und vollkommen gut ist? Man kann viel behaupten. Genauer gesagt: eigentlich alles. Die Frage bleibt, ob es gemessen an der Realität wahrscheinlich ist. Ich glaube das nicht mehr.

 

Aber es ist immer einfacher, etwas zu kritisieren, als einen Gegenvorschlag zu bringen. Hier zum Schluss zwei mögliche Szenarien, die mir gerade plausibler erscheinen.

 

  1. Es gibt da zum einen die Prozesstheologie, die Gottes Allmacht nicht als Vorannahme hat. Das würde einige der Anfragen erklären, aber aus meiner Perspektive den Bildern von Gott in der Bibel nicht so ganz gerecht werden. Generell stellen sich die Fragen in diesem Eintrag nicht, wenn man eine andere Vorstellung von Gott voraussetzt: Klar kann sich ein Gott in der Bibel offenbart haben, aber diesem Gott war es offensichtlich egal, wie sehr sein Wort Menschen, Gemeinden, oder auch Nationen gegenüber eingesetzt werden würde. Natürlich hat die Bibel auch positive Seiten. Aber es lässt sich nicht bestreiten, dass die Bibel in genannten Themengebieten missbraucht oder „richtig“ aber trotzdem schädlich gebraucht wurde und wird, und das mit bestem Gewissen. Es ist ja schließlich Gottes Wille. Wenn es einen Gott gibt, der sich so offenbart hat, scheint er andere Prioritäten als die Vermeidung von (unnötigem) Leid zu haben. Das kann sein, aber lässt ihn eher lieblos erscheinen.
  2. Eine weitere Möglichkeit ist es, dass überhaupt kein Gott hinter der Bibel steckt: Die Unstimmigkeiten, moralischen Ansichten, die Fehlinterpretationen und alles andere, was ich hier beschrieben habe, sind in diesem Szenario kein Problem mehr. Wenn es sich um eine Sammlung menschlicher Texte aus einer religiösen Tradition zu einer bestimmten Zeit handelt, ist aller Missbrauch oder Schaden einfach Teil des Einflusses von Vergangenheit auf Gegenwart; Es ist dann „einfach“ Kultur, die kritisch hinterfragt werden darf. Vielleicht wird man mit diesem Blick der Bibel sogar gerechter.

Diese zweite Perspektive finde ich gerade befreiend, wenn auch beängstigend. Aber sie löst für mich erstmal die beschriebene kognitive Dissonanz.

Dann sind wir einfach alle Menschen, die lernen, miteinander zu kommunizieren. Menschen, die Fehler machen, falsch verstanden werden können, ihre Meinung ändern und sich aneinander anpassen.

Dann sind irritierende Bibelstellen wie die Worte der Mutter an ihr Baby, bevor sie ihre Aufforderung durch andere Kommunikationswege verständlich machte:

Im Fall der Bibel sind sie eingefroren in ihrer schriftlichen Form, ohne die Möglichkeit, durch andere Kommunikationswege erläutert zu werden.

 

So, das war echt viel. Danke, wenn du bis hierher gelesen hast! Was denkst du dazu? Wenn du an den christlichen Gott glaubst, stellen sich dir diese Fragen? Wie gehst du mit ihnen um? Ich freue mich auf (kritische) Kommentare!

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3 Gedanken zu „Allmächtige Kommunikation?“

  1. Vielen Dank für den unterhaltsamen Text ;)

    Früher war die Bibel für mich verbalinspiriert, was zu den von dir geschilderten Problemen führte. Mittlerweile lese ich sie eher als Tagebuch/Erfahrungsbericht von gläubigen Menschen. Wenn sich Gott offenbart hat, dann in Jesus Christus. Das heisst, er hat sich uns gezeigt, indem er auf die Erde kam und vorlebte und nicht indem er ein Buch vom Himmel warf.

    All die theologischen Diskussionen sind mir heute nicht mehr so wichtig. Wenn man selbst schon bei wichtigen Positionen umgedacht hat, wird einem bewusst, wie relativ solche Perspektiven sein können. Vielmehr möchte ich Gott suchen in mir. Wie Karl Rahner sagte: „Der Fromme der Zukunft wird ein ‘Mystiker’ sein, einer, der etwas ‘erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Einmal von Gott berührt zu werden ist tausendmal mehr wert als die vermeintlich richtige Theologie.

    1. Hi Martin! Danke für deine Perspektive, richtig schön, dass du Gott auf der Ebene erlebst und dich dabei neu entdeckst. Das Zitat regt echt zum Nachdenken an. Bin gespannt, was die Zukunft bringen wird :)

  2. Danke für die spannenden Gedanken! Aus diesem Blickwinkel habe ich meinen Glauben an Jesus Christus noch nie beurteilt. Von daher fühlt sich alles, was ich darauf „erwidern“ würde, oberflächlich und sich verteidigend an. Dabei gründen alle meine „Erklärungsversuche“ im System, wie du es in einem anderen Blogbeitrag formuliert hast.

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